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Mehrdeutigkeit
auch: Polysemie, Vieldeutigkeit
Dass das gleiche Objekt oder Ereignis in verschiedenen Interpretationssituationen als verschiedenes Zeichen fungieren kann, ist eine allgemeine Einsicht der Semiotik. Der Begriff Polysemie wird in der Sprachwissenschaft meist wortorientiert verwendet. Vereinfacht gesprochen, ist „Polysemie“ eine Relation zwischen zwei Einheiten der Sprache, die bei gleicher Ausdrucksgestalt verschiedene Inhaltseinheiten bezeichnen. „Birne“ bezeichnet etwas zum Essen genauso wie einen Teil einer Lampe, wobei zu Kohl-Zeiten der Kanzler-Kosename als dritte systematische Variante hinzutritt. „Birne“ ist ein polysemes Wort. Über die Satzgrenze hinaus gibt es in der Sprachwissenschaft keine Verwendung von „Polysemie“. Weder die linguistisch noch die literaturwissenschaftlich orientierte Texttheorie hat sich mit der Möglichkeit der Mehrdeutigkeit von Texten befasst.
In der angloamerikanischen Fernsehtheorie ist dagegen seit Jahren von der Polysemie von Fernsehtexten die Rede. Der sich als Alternative anbietende Terminus „Ambiguität“ – in der Sprachwissenschaft als Bezeichnung für mehrdeutige Konstruktionen, insbesondere Sätze geläufig – ist deutlich auf linguistische Phänomene eingeschränkt. Ein polysemer Text ist ein Text, der mehrere, strukturell-systematisch verschiedene, Bedeutungen hat. Der gleichen Textoberfläche sind also verschiedene semantische Interpretationen zuordenbar, die alle Aspekte der semantischen Organisation des Textes betreffen können. Welche Bedeutung aktiviert wird, ist abhängig von Alter und Rasse, Geschlechts-, Klassen-, kultureller oder subkultureller Zugehörigkeit des Rezipienten, gelegentlich auch vom situativen Kontext. Es geht um Polysemie in einem strengen und systematischen Verständnis, nicht um „Konnotationen“, wie man ja manchmal individuell unterschiedliche assoziative, emotive und wertende Aspekte der Zeichenverarbeitung bezeichnet. Fernsehen als ein populäres Medium muss wie andere Medien der Populärkultur mehrdeutig sein – im Sinne von polyinterpretabel –, weil es an heterogene Publiken adressiert ist, die einen Fernsehtext in ihren subkulturellen Bezugssystemen jeweils spezifisch interpretieren können müssen.
Literatur: Condit, C.: The rhetorical limits of polysemy. In: Critical Studies in Mass Communication 6,2, 1989, S. 103-122. – Dahlgren, Peter: What's the meaning of this? Viewers' plural sense-making of TV news. In: Media, Culture and Society 10, 1988, S. 285-301. – Fiske, John: Television: Polysemy and popularity. In: Critical Studies in Mass Communication 3, 1986, S. 391-408. – Jensen, Klaus Bruhn: The politics of polysemy. Television news, everyday consciousness and political action. In: Media, Culture, and Society 12,1, 1990, S. 57-78. – Livingstone, Sonia M.: Interpreting a television narrative. How different viewers see a story. In: Journal of Communication 40,1, 1990, S. 72-85. – Wulff, Hans J.: Mehrdeutigkeit als Problem der Fernsehtheorie. In: Fernseh-Theorien. Hrsg. v. Knut Hickethier u. Irmela Schneider. Berlin: Edition Sigma 1992, S. 101-108.